Diesen Beitrag möchte ich ausnahmsweise mit einer ganz persönlichen Geschichte beginnen. (Wer so etwas als überflüssig ansieht, kann diesen Absatz überspringen.) Es geht um das Weihnachtsoratorium von Johann Sebastian Bach, das eine ganz wesentliche Rolle im Film „Bach – Ein Weihnachtswunder“ spielt.
Ich wuchs in einem Pfarrhaushalt in der DDR auf. Wir wohnten erst in einer Kleinstadt und später in einem Dorf. Es war mir in der Kindheit und Jugend nicht möglich, das Weihnachtsoratorium mit Solisten, Chor und Orchester zu hören. Wir hatten zwar eine Schallplatte mit Ausschnitten daraus, aber der Lautsprecher unseres Plattenspielers erfüllte nur geringe Ansprüche. Mit 19 Jahren musste ich dann meiner anderthalbjährigen Wehrpflicht nachkommen. Eine Verweigerung wurde mit Gefängnis bestraft. Es war aber möglich, einen Dienst ohne Waffe als Bausoldat zu machen. Obwohl das auch größere Nachteile haben konnte, wählte ich diese Möglichkeit. In der Adventszeit 1979 war ich bereits etliche Wochen nicht mehr zuhause gewesen. Vom bevorstehenden Weihnachtsfest wusste ich, dass ich es vor allem kohleschippend in einer Niederdruckheizung der Offiziershochschule „Franz Mehring“ verbringen würde. In dieser Zeit lud mich während eines Ausgangs eine christliche Familie zu einem Kaffeetrinken ein. Ich genoss die wohlige Atmosphäre. Zum Abschluss hörten wir gemeinsam vom Plattenspieler (mit guten Lautsprechern) den Eingangschor der ersten Kantate des Weihnachtsoratoriums. Es war für mich ein überwältigendes Erlebnis, an das ich immer wieder zurückdenke. Auch heute noch, etliche Jahrzehnte später und nachdem ich dieses Werk viele Male gespielt habe, ist es für mich etwas Besonderes. Das änderte sich auch nicht, als ich während meines Musikstudiums, meiner Promotion und den Jahren im Orchester viel über dieses Werk und seine Entstehung erfuhr.
Es hat sich ein Textheft erhalten, auf dessen Titelseite zu lesen ist: „Oratorium, welches die heilige Weyhnacht über in beyden Haupt-Kirchen zu Leipzig musiciret wurde. Anno 1734“. Daraus konnten während der Aufführungen in den Gottesdiensten die Texte mitgelesen werden. Diesem Heftchen ist zu entnehmen, dass die sechs Kantaten nicht für eine gemeinsame Aufführung bestimmt waren. Die einzelnen Kantaten wurden 1734/35 „Am 1sten Heil. Weyhnacht-Feyertage“, „Am 2. Heil. Weyhnachts-Feyertage“, „Am 3. Heil. Weyhnachts-Feyertage“, „Aufs Fest der Beschneidung Christi“, „Am Sonntage nach dem Neuen Jahr“ und „Am Fest der Offenbarung Christi“ aufgeführt. Die Klammer, die alle sechs Kantaten zusammenfasst, sind die fortlaufenden Bibeltexte der Rezitative. Durch die Regelung bei der Verteilung der Musik in den Gottesdiensten erklangen 1734/35 alle sechs Kantaten in der Nicolaikirche, in der Thomaskirche hingegen nur vier.
Das Weihnachtsoratorium entstand in einer Zeit, in der sich Johann Sebastian deutlich weniger mit Kantaten beschäftigte, als in den ersten Jahren seines Dienstes in Leipzig (1723 war er mit seiner Familie in diese Stadt gekommen.) „Meisterwerke im Wochentakt“ hieß 2010 eine Kabinettausstellung des Bach-Museums Leipzig. In ihrem Katalog über seine ersten Amtsjahre in Leipzig ist zu erfahren: „Mit einer eindrucksvollen Selbstdisziplin schuf er nun vier Jahre lang nahezu wöchentlich eine neue Kantate für den Sonntagsgottesdienst, außerdem zwei große Passionsmusiken und prächtige lateinische Kirchenstücke“. (Meisterwerke 2010, Seite 3 Meisterwerke im Wochentakt – Bachs Einstand in Leipzig, Katalog zur Kabinettausstellung im Bach-Museum Leipzig vom 20. März bis 22. August 2010 / hrsg. vom Bach-Archiv Leipzig, Konzept/ Texte/ Redaktion: Michael Maul, Leipzig 2010) Herausragend ist der sogenannte Choralkantaten-Jahrgang 1724/25. Ab dem 1. Sonntag nach Trinitatis 1724 komponierte Johann Sebastian auf Basis von ausgewählten Kirchenchorälen für die Sonn- und Feiertage neue Kantaten. Das betraf auch den ersten, zweiten und dritten Weihnachtstag, den Neujahrstag, den Sonntag danach und das Epiphaniasfest. Alle sind Meisterwerke. Dabei konnte er bei der Anfertigung der Einzelstimmen auf Hilfe von Schülern zurückgreifen. Seine Kinder oder Ehefrau Anna Magdalena wirkten dabei nur in Ausnahmefällen mit. Auch beim Weihnachtsoratorium schrieb er die Partitur, während die Einzelstimmen von Schülern geschrieben wurden. Eine Mitwirkung seiner Familienmitglieder ist nicht nachzuweisen.
Abbildung 1: Ausschnitt der von Johann Sebastian Bach geschriebene Partitur mit dem Eingangschor des Weihnachtsoratoriums
(Staatsbibliothek zu Berlin – Preußischer Kulturbesitz, Mus.ms. Bach P 32)
Mehrfach wird im Spielfilm „Bach – Ein Weihnachtswunder“ auf einen bestimmten Passus im Arbeitsvertrag von Johann Sebastian hingewiesen. Mit seiner Unterschrift am 5. Mai 1723 hatte er sich unter anderem verpflichtet, er werde „Zu Beybehaltung guter Ordnung in denen Kirchen die Music dergestalt einrichten, daß sie nicht zulang währen, auch also beschaffen seyn möge, damit sie nicht opernhafftig herauskommen, sondern die Zuhörer viermehr zur Andacht aufmuntere.“ Die Begriffe „lang“ und „opernhaft“ sind allerdings sehr relativ. Mehrfach führte Johann Sebastian die rund dreistündige Matthäus-Passion auf. Es gibt keinen Hinweis, dass Leipziger Einrichtungen an der Länge Anstoß nahmen.
Wie verhält es sich aber mit der „Opernhaftigkeit“? In seinem Werk „Historie der Kirchen-Ceremonien in Sachsen“, das 1732 erschien, schrieb der Pfarrer Christian Gerber: „Vor funffzig und mehr Jahren war der Gebrauch, daß am Palm-Sonntage die Orgel in der Kirche schweigen muste, es ward auch an solchen Tage, weil nun die Char- oder Marter-Woche anfange, keine Music gemacht. Bisher aber hat man gar angefangen die Paßions-Historia, die sonst so fein de simplici & piano, schlecht und andächtig abgesungen wurde, mit vielerley Instrumenten auf das künstlichste zu musiciren, und bisweilen ein Gesetzgen aus einen Paßions-Liede einzumischen, da die gantze Gemeine mitsinget, alsdennn gehen die Instrumenten wieder mit Hauffen. Als in einer vornehmen Stadt diese Paßions-Music mit 12. Violinen, vielen Hautbois, Fagots und andern Instrumenten mehr, zum erstenmal gemacht ward, erstaunten viel Leute darüber, und wusten nicht, was sie daraus machen sollten. Auf einer Adelichen Kirch-Stube waren viel hohe Ministri und Adeliche Damen beysammen, die das erste Paßions-Lied aus ihren Büchern mit grosser Devotion sungen: Als nun diese theatralische Music angieng, so geriethen alle diese Personen in die gröste Verwunderung, sahen einander an und sagten: Was soll daraus werden? Eine alte adeliche Wittwe sage: Behüte GOtt ihr Kinder! Ist es doch, als ob man in einer Opera oder Comödie wäre: Alle aber hatten ein hertzlich Mißfallen daran, und führeten gerechte Klagen darüber.“ Christian Gerber (1660–1731) war Pfarrer in Lockwitz (heute Stadtteil von Dresden) und macht in seinen Ausführungen sehr deutlich, dass er von opulenter Musik und damit auch von großen Orgeln nichts hielt. Das war aber seine Meinung. Die Annahme, dass es sich bei der „vornehmen Stadt“ um Leipzig handeln müsse, ist reine Spekulation. „Anno 1724, wurde die Passion [von dem Cantore] zu St. Nic. Zum ersten mahl Musiciret“, ist Aufzeichnungen eines Küsters der Thomaskirche zu entnehmen. (Dok II, Seite 141) Der Brauch, gegen welchen der besagte Pfarrer in Lockwitz wetterte, war in Leipzig von den weisungsberechtigten Institutionen also eingeführt worden, als Johann Sebastian bereits dort wirkte. Auch verfügte dieser Ort über etliche große Orgeln, für die viel Geld ausgegeben worden war. (Wolff/ Zepf 2008, Seiten 64 ff.) 1725 führte Johann Sebastian seine Johannes-Passion zum ersten Mal auf. Sie dürfte als deutlich dramatischer als das Weihnachtsoratorium empfunden worden sein. Später bearbeitete er sie mehrfach und führte sie erneut auf, ohne die Länge oder Dramatik merkbar einzuschränken. 1749 ist die letzte Aufführung zu seinen Lebzeiten in der Nicolaikirche nachzuweisen. Es gibt keinen Hinweis, dass vorgesetzte Stellen an diesem Werk Anstoß nahmen.
Von 1739 gibt es allerdings die Notiz eines städtischen Angestellten: „Auff E. E. Hochweisen Raths Verordnung bin ich zu Herrn Bach allhier gegangen, und habe demselben hinterbracht, wie die von ihm auf bevorstehenden Char-Freytage haltende Music, bis auf darzu erhaltene ordentliche Erlaubniß unterbleiben solle; Worauff derselbe zur Antwort gab: es wäre allemahl so gehalten worden, er fragte nichts darnach, denn er hätte ohnedem nichts darvon, und wäre nur ein onus, er wolle es den Herrn Superintendeten melden, daß es ihm wäre untersagt worden, wenn etwa ein Bedencken wegen des Textes gemacht werden wolle, so wäre solcher schon ein paar mahl aufgeführet worden“ (Dok II, Seiten 338 f.) Interessant ist, dass Johann Sebastian diese Aufführung als eine Last (onus) ansah. Wahrscheinlich spielte hierbei auch eine Rolle, was in den Worten von Carl Philipp Emanuel zum Ausdruck kommt: „Schade, daß er selten das Glück gehabt, lauter solche Ausführer seiner Arbeit zu finden, die ihm diese verdrießlichen Bemerkungen ersparet hätten.“ (Dok VII, Seiten 101 f.) Es ist auch auffällig, dass Johann Sebastian als eventuellen Hinderungsgrund nicht auf Dramatik oder Länge der Musik eingeht. Er vermutet nur, dass es am Text liegen könnte.
Im Nekrolog auf Johann Sebastian ist angegeben, dass er fünf Kantatenjahrgänge komponierte. (Dok VII, Seite 100) Nach heutigem Forschungsstand war die Arbeit daran in den 1720er nahezu abgeschlossen und er konzentrierte sich auf andere Bereiche. So arbeitete er an der Herausgabe der Clavier-Übungen. Teil I und Teil III erschienen dabei „in Verlegung des Authoris“. Die Kompositionen im Teil IV sind heute unter dem Namen „Goldberg-Variationen“ bekannt. Allein daran wird schon deutlich, dass sich hinter dem Titel „Clavier Übung“ Meisterwerke verbergen, die Johann Sebastian aber offensichtlich vor allem als Studienwerke ansah. Der Ausbildung von Privatschülern widmete er sich äußerst intensiv. (Koska 2019, Seiten 13 ff.)
Für das Weihnachtsoratorium nutzte er für fast alle Eingangschöre und Arien Kompositionen von zwei Kantaten, die er bereits vorher komponiert und aufgeführt hatte. Eine erklang anlässlich des Geburtstags der Kurfürstin von Sachsen und Königin von Polen Maria Josepha (BWV 214), die andere (BWV 213) zum Geburtstag von Kronprinz Friedrich Christian. (In beiden Fällen fanden die Aufführungen in Leipzig statt. Die Geehrten waren dabei nicht anwesend.) Stand Johann Sebastian unter Zeitdruck als das Weihnachtsoratorium entstand? Oder wollte er (Schülern) darstellen, wie mit vorhandener Musik, neuen Texten, verbindenden Rezitativen und Chorälen ganz neue Eindrücke entstehen können? Es kann über viele Möglichkeiten spekuliert werden, warum er so vorging. Für mich ist das Weihnachtsoratorium inzwischen aber auch so faszinierend, weil ich diese unterschiedliche Wirkung von Musik staunend zur Kenntnis nehme.
Nach Johann Sebastians Tod schrieb Georg Philipp Telemann 1751 in einem veröffentlichten Huldigungsgedicht:
„So schlaf! Dein Nahme bleibt vom Untergange frey:
Die Schüler Deiner Zucht, und ihrer Schüler Reyh
Dient, durch ihr Wissen, dir zur schönen Ehrencrone;
Auch deiner Kinder Hand setzt ihren Schmuck daran;
Doch was insonderheit dich schätzbar machen kann,
Das zeiget uns Berlin in einem würdgen Sohne.“ (Dok III, Seite 7)
(Mit diesem Sohn ist Carl Philipp Emanuel gemeint, dessen Pate Georg Philipp Telemann war.) Johann Sebastian wurde also als hervorragender Lehrer wahrgenommen. Vielleicht zog er sich auf diese Möglichkeit zurück, weil er von den kirchenmusikalischen Gegebenheiten in Leipzig enttäuscht war. Allerdings fertigte er schon in Köthen eine Reinschrift des „Wohltemperierten Klaviers“ an. (BWV 846–869). Auf dem Titel vermerkte er unter anderem: „Zum Nutzen und Gebrauch der Lehr-begierigen Musicalischen Jugend“. (Dok I, Seite 219) Über die Ausbildung in Leipzig berichtet dann ein Privatschüler, dass ein intensives Studium dieses Werks ein ganz wichtiger Bestandteil der Ausbildung bei ihm war. (Dok III, Seite 476) Es ist also durchaus möglich, dass Johann Sebastian Bach nach Leipzig ging, weil ihn die Möglichkeit reizte, talentierte Privatschüler ausbilden zu können, die gleichzeitig an der Universität studierten. So lief auch die Ausbildung seiner Söhne Wilhelm Friedemann und Carl Philipp Emanuel ab und dieses Ausbildungsprinzip war äußerst erfolgreich. Dass er sich auch dabei seinem Gott eng verbunden fühlte, dürften die Buchstaben zeigen, die er an das Ende seiner Reinschrift vom „Wohltemperierten Klavier“ setzte: SDG – Soli Deo Gloria – Allein Gott die Ehre.
Abbildung 2: Johann Sebastian Bachs Abschluss der Reinschrift vom „Wohltemperierten Klavier“: S. D. G. – Soli Deo Gloria
(Staatsbibliothek zu Berlin – Preußischer Kulturbesitz, Mus.ms. Bach P 415)