Im „Verzeichniß des musikalischen Nachlasses des verstorbenen Capellmeisters Carl Philipp Emanuel Bach“, das 1790 in Hamburg gedruckt erschien, ist eines der Ölgemälde mit den Worten beschrieben: „Bach, (Anna Magd.) Sopranistin“. (Siehe Beitrag: "Wie sah Anna Magdalena Bach aus?") Leider ging das Bildnis verloren. Der Eintrag zeigt aber nicht nur, dass einmal eine Darstellung von Anna Magdalena Bach existierte, sondern auch, dass die angeführte Tätigkeit eine bedeutende Rolle in ihrem Leben gespielt haben muss. Bedauerlicherweise gibt es nur wenige Quellen, die darüber genauere Auskünfte geben. Etliches lässt sich aber schlussfolgern.
Erste namentliche Belege, die sie als Sängerin ausweisen, stammen aus Köthener Kirchenakten vom September 1721. Darin wird sie als „fürstl. Sängerin“ bzw. „Cammer-Musicantin“ bezeichnet. Es handelt sich dabei um Einträge, in denen sie als Patin aufgeführt ist. Ob „Cammer-Musicantin“ ihre genaue Titelbezeichnung am Hofe von Anhalt-Köthen war, kann durch weitere Dokumente nicht bestätigt werden. Die Einträge zeigen aber, dass sie dort als Sängerin wirkte. Folglich muss sie eine entsprechende Ausbildung erhalten haben. Wann und wie diese genau erfolgte, ist nicht bekannt. Anna Magdalena kam am 22. September 1701in einem Musikerhaushalt zur Welt. Ihr Vater war Trompeter am Hof von Sachsen-Zeitz. Ihre Mutter stammte aus dem Haushalt eines Organisten. Ihr Onkel war Hoftrompeter und Organist an der Schlosskirche in Zeitz. Spätestens 1718 dürfte Anna Magdalena nach Weißenfels gezogen sein, denn im Februar 1718 verkaufte ihr Vater das Haus in Zeitz. Er hatte am Hof von Sachsen-Weißenfels eine Anstellung als Trompeter erhalten. Dort wirkte auch die Sängerin Christiane Paulina Kellner (1664–1745), die unter dem Namen Paulina bekannt war. Es ist möglich, dass sie bei der Ausbildung von Anna Magdalena eine Rolle spielte, doch gibt es dafür keine Belege. (Hübner 2005, Seiten 25 f., 34, 40; Schulze 2013, Seiten 290 ff.)
In Abrechnungen aus Zerbst, welche den Zeitraum Mitte 1720 bis Mitte 1721 betreffen, ist zu lesen: „6 Thaler dem Trompeter Wilke von Weißenfels so sich allhier hören lassen, 12 Thaler dessen Tochter so in der Capelle einige Male mitgesungen“ (Schubart 1954, Seite 48) Leider ist der Name der Tochter nicht angegeben. Es ist aber anzunehmen, dass es sich um Anna Magdalena handelte. Ihre Schwestern waren zu diesem Zeitpunkt bereits verheiratet und eine von ihnen wäre wohl in Verbindung mit dem Namen ihres Mannes aufgeführt worden. (Schulze 2013, Seite 292 Fußnote 58) Aus den ausgezahlten Summen von Vater und Tochter können keine Rückschlüsse auf die Wertschätzung gezogen werden, da nicht bekannt ist, in welchem Umfang und welchen Positionen die beiden auftraten. Festzuhalten ist aber, dass die Tochter mit „einigen Malen mitsingen“ eine Summe verdiente, für die eine angestellte Frau, die von „früh halb Sieben biß abends 10 Uhr“ Wäsche plättete, 58 Tage arbeiten musste. (Dimpfel 1929, Seite 85)
Vielleicht fand der besagte Aufenthalt in Zerbst unmittelbar vor dem Eintreffen Anna Magdalenas in Köthen statt. In dortigen Akten erscheint sie erstmalig für eine Abendmahlsteilnahme am 15. Juni 1721. (Hübner 2005, Seite 39)
Stadtansicht von Köthen im 17. Jahrhundert.
(Quelle: Topographia Superioris Saxoniae, Thuringiae, Misniae, Lusatiae etc., Frankfurt am Main 1650. Mit freundlicher Unterstützung der Universitätsbibliothek Leipzig)
Am 3. Dezember 1721 heirateten „Johann Sebastian Bach, HochFürstlicher Capell-Meister alhier Wittber“ und „Jungfer Anna Magdalena, Herrn Johann Caspar Wülckelns, Hoch-Fürstlich Sachßen Weißenfelßischen Musicalischen Hoff- und Feld Trompeters eheliche jüngste Tochter“. (Dok II, Seite 83)
Johann Sebastian Bach war seit 1717 am Köthener Hof tätig. Seine erste Ehefrau Maria Barbara verstarb Anfang Juli 1720 und hinterließ ihm vier Kinder, die bei ihrem Tod 5, 6, 9 und 11 Jahre alt waren. Nach damaligem Recht hätte er bereits nach einem halben Jahr erneut heiraten dürfen. (Zedler Band 45, Spalte 132) Die Ehe mit Anna Magdalena ging er also nicht ein, weil die Kinder versorgt werden mussten und dringend eine Arbeitskraft für den Haushalt notwendig war. (Siehe auch: "Gab es Gesinde im Hause der Familie Bach?") Es muss andere Gründe für ihn gegeben haben. Vielleicht waren die beiden sehr verliebt ineinander? Als Grund für eine Eheschließung spielte das in ihrer Zeit aber nur eine untergeordnete Rolle. Ehepartner sollten sich wertschätzen und mussten vor allem in der Lage sein, gemeinsam ein Hauswesen zu führen. Anna Magdalena Wilcke stammte aus einer Familie, in der mit Musik Geld verdient wurde. Ihre Erfahrungen und Fähigkeiten qualifizierten sie als Partnerin für die Führung eines Hauswesens, in dem das ebenfalls der Fall war. Welche Gründe für die Eheschließung bei Johann Sebastian aber welche Gewichtung hatten, ist nicht bekannt. Das gilt auch für Anna Magdalena. Es sei nur darauf aufmerksam gemacht, dass sie als Hofsängerin finanziell unabhängig war. Sie heiratete also nicht, weil sie versorgt werden musste. Die Eheschließung machte ihre wirtschaftliche Situation aber sicherer und war für sie auch ein Schutz.
Mit der Eheschließung hatte sie das Recht, die Ehren und Würden des Mannes zu übernehmen. Sie stieg sozial auf und wurde die Frau Capellmeisterin. Als Sängerin war sie weiterhin am Hofe tätig. Abrechnungen, die aus der Zeit nach ihrer Hochzeit stammen, weisen für sie nach dem Capellmeister Bach und dem Concertmeister Spieß das dritthöchste Gehalt aus. (Hoppe 1986, Seite 18)
Im April 1723 wurde Johann Sebastian Bach in Leipzig zum Cantor an der Thomasschule und Musicdirector der Stadt gewählt. Einen Monat später zog die Familie um. Es ist nicht bekannt, was Anna Magdalena empfand, als sie das ländlich geprägte Köthen verließ, um in Leipzig zu leben, einer Universitätsstadt, in der jährlich drei große Handelsmessen stattfanden und in der drei Mal so viele Menschen lebten als im ganzen Fürstentum Anhalt-Köthen. (Spree 2021, Seite 39) Vielleicht fiel es ihr schwer, die Möglichkeiten, die ihr das Leben in Köthen bot, aufzugeben? Es ist aber auch möglich, dass sie froh über die Veränderung war. Vielleicht hatte ihr hohes Gehalt Neider auf den Plan gerufen hatte, die ihr das Leben schwer machten? Auch war eine höfische Anstellung immer von der Gnade des Regenten abhängig. Intrigen waren ein bewährtes Mittel, um Konkurrenten zu verdrängen und in seiner Gunst zu steigen.
Die Antwort bleibt bestehen: Wir wissen nicht, was Anna Magdalena Bach beim Verlassen von Köthen empfand. Auf jeden Fall war sie aber auch in Leipzig als Sängerin aktiv - siehe "Anna Magdalena Bach - die Sängerin. Teil II".