Johann Sebastian Bach war in Leipzig Cantor an der Thomasschule. Das heißt, er war als Lehrer verantwortlich für die musikalische Ausbildung der Schüler und hatte darüber hinaus weitere pädagogische Pflichten an dieser Schule (siehe „Johann Sebastian und Anna Magdalena Bach - ein Arbeitspaar: dienstliche Verpflichtungen. Teil I“) Er war aber auch Music-Director der Stadt. Damit hatte er unter anderem die Aufgabe die „Music in beyden Haupt-Kirchen dieser Stadt, nach […] besten Vermögen, in gutes Aufnehmen“ zu bringen, wie es in seinem Arbeitsvertrag heißt. (Dok I, Seite 177) Die zwei Hauptkirchen waren St. Thomas und St. Nikolai. Mitwirkende bei den Kirchenmusiken waren die Alumnen der Thomasschule und angestellte Musiker der Stadt. Sie wurden mit weiteren Kräften, wie Studenten ergänzt. Amtsvorgänger Johann Kuhnau berichtete, dass er vom „Anfange des Gottes-Dienstes vor 7 Uhr […] also alle Sonntage 4 Stunden vor Mittages, und auch die zur Vesper nöthige Zeit“ anwesend war. (Spitta 1880, Seite 864) Allerdings war es Johann Sebastian Bach auch hier durch seinen Arbeitsvertrag gestattet, sich durch „ein ander tüchtiges Subjectum“ vertreten zu lassen. (Dok I, Seite 178)
In seinen ersten Dienstjahren komponierte Johann Sebastian Bach fünf Kantaten-Jahrgänge für die Gottesdienste. Bei einem Jahrgang ist von rund 53 Kantaten auszugehen. (Wolff 2005, Seiten 299 ff.) Diese fünf Jahrgänge dürften eine Art Grundstock gewesen sein, den ein Music-Director für seine Arbeit benötigte. Carl Philipp Emanuel Bach, der 1768 in Hamburg Music-Director wurde, schrieb 1771, er habe für seine Arbeit die Partituren von sechs Kantatenjahrgängen abschreiben lassen. (CPEB-Dok, Seiten 209 f.)
Es gab Komponisten, die viel mehr Kantaten komponierten. Georg Philipp Telemann, von 1721 bis 1767 Music-Director in Hamburg, schuf mehr als 1.700. Johann Sebastian Bach führte in seinen späteren Jahren eigene Werke wiederholt auf und nutzte auch Kantaten anderer Komponisten. (Dürr 1957, Seite 49; Glöckner 2009, Seiten 103 f.)
Nachdem er eine Partitur fertiggestellt hatte, mussten die Einzelstimmen aus ihr herausgeschrieben werden. Der spätere Cantor der Thomasschule Johann Friedrich Doles berichtete 1778: „Daß die Schüler von allen meinen Vorfahren jederzeit zu Notenschreiben sind gebraucht worden, beruht in der Erfahrung. Ob ihnen die vorigen Cantores auch außergottesdienstliche Musikalien zu schreiben zugemuthet haben, vermag ich mit weniger Gewißheit zu behaupten, als ich versichern kan, daß sie zu Zeiten des seeligen Bachs weit öfterer und häufiger mit Notenschreiben sind heimgesucht worden als zu den meinigen.“ (Dok III, Seite 327) Bei diesen Kopierarbeit ist aber auch die Mitarbeit von Anna Magdalena Bach, seiner Ehefrau, nachzuweisen. Da von den Kantaten mehr als die Hälfte verlorenging und viele Einzelstimmen fehlen, ist nicht festzustellen, wie hoch ihr Anteil daran genau war. In der Dokumentensammlung zu Anna Magdalena Bach, die von Maria Hübnern herausgegeben wurde, sind elf Kantaten für Gottesdienste aufgeführt, bei denen Bachs Ehefrau mitwirkte. Dabei fertigte sie aber nur einzelne Stimmen an. (Hübner 2005, Seiten 137 ff.) Einen Eindruck von der Vorgehensweise können die 44 Originalstimmensätze von Choralkantaten liefern, die heute Eigentum der Thomasschule Leipzig sind. Hauptkopisten dieser Stimmen waren Johann Andreas Kuhnau und Christian Gottlob Meißner. Beide waren Schüler der Thomasschule. Anna Magdalena Bach schrieb nur bei fünf Kantaten einzelne Stimmen. (BzB 5, Seite 81) Interessant ist dabei das Stimmenmaterial für die Kantate „Ach wie flüchtig, ach wie nichtig“ (BWV 26). Johann Andreas Kuhnau schrieb mehrere Gesangsstimmen, die dann von Anna Magdalena Bach vervollständigt wurden (siehe Abbildung).
Abbildung: Ausschnitt aus der Tenorstimme der Kantate „Ach wie flüchtig, ach wie nichtig“ (BWV 26). Die Noten in den ersten drei Zeilen stammen von Johann Andreas Kuhnau. Die Abschrift wurde dann von Anna Magdalena Bach vervollständigt. (Bach-Archiv Leipzig, Leihgabe des Thomanerchors Leipzig)
So war Anna Magdalena Bach also nicht Hauptkopist ihres Mannes, sprang aber ein, wenn es notwendig war. Ihre Erfahrungen befähigten sie vor allem, Kopiearbeiten zu beaufsichtigen.
Anna Magdalena Bach war auch nachweislich in der Lage, Kantatenaufführungen zu organisieren. Das belegen Ratsakten, in denen die Bestellung der Ratswahlkantate beim Music-Director der Stadt vermerkt ist. Diese wurde am Montag nach St. Bartholomä (24. August) aufgeführt. Nach dem Tod von Johann Sebastian Bach, als sein Nachfolger seinen Dienst noch nicht angetreten hatte, ist dort im August 1750 vermerkt: „Bestellete der Thür Knecht bey des verstorbenen Cantoris Herrn Bachs Witbe die Kirchen Music auf heüt über 8 Tage bey den bevorstehenden Raths Wechsel“. Dieser Eintrag gibt keine Auskunft darüber, wie sie die Aufführung genau organisierte und wie diese dann ablief. Verantwortlich dafür war aber „des verstorbenen Cantoris Herrn Bachs Witbe“. (Dok II, Seite 194)
Mit diesem Hintergrund erscheinen auch Formulierungen aus einem Brief vom August 1741 in einem anderen Licht. Zu dieser Zeit weilte Johann Sebastian Bach in Berlin. Sein Vetter Johann Elias Bach schrieb ihm, um baldige Rückkehr nach Leipzig bittend: „Das leztere wünschen wir deswegen balde erfüllet zu sehen, weil sich unsere liebwertheste Frau Mamma schon seither acht Tagen sehr unbaß befindet, u. man nicht weiß, ob etwa aus der hefftigen Wallung des Geblütes gar ein schleichendes Fieber, oder sonsten üble Folgerungen entstehen möchte, worzu noch dieses kömmt, daß Barholomäi u. sodann die hiesige Rathswahl in wenig Wochen gefällig ist, da wir denn nicht wüßten, wie wir uns in Abwesenheit Ew. HochEdelgeb. deßfalls verhalten solten.“ (Dok II, Seite 391) Dass die Ratswahl in diesem Jahr am 28. August stattfinden würde, stand bereits vor der Abfahrt von Johann Sebastian nach Berlin fest. Der einzige erkennbare Umstand, der sich verändert hatte, war der Zustand von Anna Magdalena. Es scheint keine Möglichkeit gesehen worden zu sein, dass ihre diesbezüglichen Aufgaben von einer anderen anwesenden Person übernommen werden konnten.
Es sind leider nur sehr wenige Dokumente vorhanden, die Auskunft über das Leben der Anna Magdalena Bach geben. So bleiben viele ihrer Aktivitäten im Dunklen. Es ist aber erstaunlich, dass sich selbst in diesen wenigen Quellen Hinweise finden lassen, die belegen, dass sie mit ihrem Ehemann auch bei dienstlichen Verpflichtungen eine Arbeitspaar bildete. (Siehe zu diesem Begriff „Johann Sebastian und Anna Magdalena Bach - ein Arbeitspaar: außerdienstliche Auftritte“) Dabei ist die geringe Anzahl an Belegen kein Beweis, dass sie diesbezüglich nicht in weit größerem Maße aktiv war. Für Proben mit einzelnen Alumnen, die bei den sonntäglichen Aufführungen Solopartien im Gottesdienst sangen, wie auch für andere Aufgaben, war sie qualifiziert. Es gibt aber leider keine Dokumente, die solche Tätigkeiten unumstößlich beweisen. Doch das heißt nicht, dass sie diese auf keinen Fall ausgeführt hat. Hinweise auf die Zusammenarbeit mit ihrem Mann gibt es aber in anderen Erwerbsbereichen, auf die in den nächsten Beiträgen eingegangen werden soll.